Die Spitze des Eisbergs, Ausgabe 1:
Reaktion auf Krisen und die Tiere der Veränderung:
Ein Zoobesuch

Tiere der Veränderung
Tiere der Veränderung

Chamäleons und Kraken – die wahren Meister der Verwandlung
Bei Vorträgen und Workshops zum Thema Change Management illustriere ich Präsentationen gern mit Bildern von Chamäleons, dem Tier, das den meisten zuerst als Beispiel für schnelle Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen einfällt. An Tintenfische und Kraken wird seltener gedacht, was unfair erscheint, sind sie doch viel wandelbarer und wehrhafter. Besonders hervorzuheben ist der sog. Mimic Octopus, ein Krake, der nicht nur die Farbe ändert, sondern auch seine Gestalt wechseln kann und sich als Seeschlange, Flunder oder Feuerfisch präsentiert, wenn Gefahr droht.

Neben den echten Meistern der Anpassung bedienen sich verschiedene Disziplinen (u. a. die Wirtschaftswissenschaften und die Verhaltensökonomie) weiterer Beispiele aus dem Tierreich, um die Phänomene des Wandels bzw. die Reaktion auf unvorhergesehene Ereignisse (in der Gesellschaft oder in Unternehmen) zu verdeutlichen: Der schwarze Schwan, das graue Nashorn oder der Elefant (im Raum). Zeit für einen Zoobesuch!


Der schwarze Schwan
Als „Schwarzer Schwan“ wird ein sehr seltenes, unwahrscheinliches Ereignis definiert, das völlig überraschend eintritt und erhebliche, negative Auswirkungen hat. Abwehrmaßnahmen oder Notfallpläne dafür vorzuhalten oder zu entwickeln ist mit unverhältnismäßig hohen Kosten verbunden. Mit „Schwarzen Schwänen“ befassen sich Unternehmen im Rahmen des Krisenmanagements (ex post), ex ante sind sie Gegenstand der Wahrscheinlichkeitstheorie. Beispiele sind die Corona-Pandemie, die Anschläge vom 11.09.2001 oder der Reaktorunfall in Fukushima.

Von echten „Schwarzen Schwänen“ spricht man, wenn sämtliche bekannten Fakten keinen Rückschluss auf ein zukünftiges Risiko zulassen und den Akteuren nicht bewusst ist, dass es Unerwartetes geben könnte. Um unechte „Schwarze Schwäne“ handelt es sich dagegen, wenn niemand das Risiko „auf dem Schirm hatte“, aber bei genauerer Analyse bekannter Fakten unter Einbeziehung bekannter Verhaltensmuster das mögliche Risiko hätte erkannt werden können.


Das graue Nashorn
Im Gegensatz zum nicht erwartbaren „Schwarzen Schwan“ ist das „graue Nashorn“ „eine sehr unwahrscheinliche, mit wesentlichen Auswirkungen verbundene, jedoch vernachlässigte Bedrohung…“, die trotz Erkennbarkeit übersehen oder absichtlich ignoriert wurde. Bei dem grauen Nashorn handelt es sich um eine langsame, aber stetige Veränderung, die keinen unmittelbaren Handlungsdruck auslöst (häufig zitiertes Beispiel hierfür ist der Klimawandel).

Michele Wucker prägte diese Metapher des „grey rhino“, um deutlich zu machen, dass so viele Dinge, die in der Wirtschaft, in der Politik oder in unserem Privatleben schief gehen, eigentlich vermeidbar sind: Wir schenken den großen offensichtlichen Problemen, die vor uns liegen, nicht genügend Aufmerksamkeit. Wir haben die Wahl, etwas dagegen zu tun oder nicht – und entscheiden uns meist für das Nichts-Tun, häufig unbewusst. Michele Wucker nennt hierfür mehrere Gründe: Wir treffen Annahmen, die uns Dinge optimistischer sehen lassen, als wir es sonst tun würden. Unser Instinkt lässt uns Dinge verleugnen, um uns vor Entwicklungen zu schützen, die uns Angst machen. Es gibt Entscheidungsmuster, die es uns erschweren, das Richtige zu tun.

Oder wir haben den Eindruck, nicht die Macht zu haben, etwas zu tun. Je weniger Macht wir empfinden, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir etwas tun.


Der Elefant im Raum
Der Elefant im Raum steht für das Thema hinter dem Thema. Alle wissen es und sehen es, es wird aber nicht gemeinsam gesehen und angesprochen. Die Gründe für das Schweigen können vielfältiger Natur sein, beispielsweise die Angst vor persönlichen Nachteilen oder die Furcht, jemanden zu verletzen, ein Tabu zu brechen oder allgemein ungeschriebene Regeln zu missachten. Diese Themen werden zum Teil bewusst, oft aber unbewusst und verdeckt über fachlich orientierte, aber ergebnislose Diskussionen ausgetragen und bilden damit den „Elefanten im Raum“, also das Thema, um das es eigentlich geht, was aber nicht angesprochen wird.

Was die Elefanten von den Nashörnern unterscheidet: Über den Elefanten wird nicht geredet und es wird auch nichts dagegen getan – was von allen als „alternativlos“ empfunden wird. Beim Nashorn werden der Handlungsbedarf und die Wahlmöglichkeiten eher erkannt und vor allem: benannt.


Was wir tun können, um diesen Tieren nicht im Büro zu begegnen
Der „Schwarze Schwan“ taucht in Vorhersagen oder Statistiken aufgrund seiner Seltenheit nie auf. Diese Ausblendung löscht das Ereignis „Schwarzer Schwan“ in den Erwartungen, so dass bei einem „unerwarteten“ Eintritt der Überraschungseffekt sehr groß ist.
Vorbeugende Maßnahmen gegen „Schwarze Schwäne“ sind meist unverhältnismäßig teuer, aber Notfallpläne helfen, sich auf den (unwahrscheinlichen) Ernstfall vorzubereiten, Situationen und Abläufe zu durchdenken und zu planen, so dass sie im Notfall greifen (wie bspw. bei einem Feueralarm). Parallel hilft es auch in unternehmerischen Entscheidungs- oder Planungsprozessen gemeinsam zu überlegen, was man nicht sieht oder ggf. übersieht und bewusst von vergangenen „Schwarzen Schwänen“ zu lernen.

Das Gefährliche an den grauen Nashörnern ist, dass sich der Handlungsdruck nur sehr langsam aufbaut und im Unternehmensalltag immer ein größeres Problem vorhanden ist, um das man sich zunächst kümmern muss. Damit rutscht das „graue Nashorn“ immer wieder von der Agenda oder man wartet ab und toleriert Entwicklungen oder persönliches Verhalten, bis es „richtig akut“ wird und sich Beschwerden häufen.

Michele Wucker empfiehlt hier, regelmäßige Realitäts-Checks für graue Nashörner durchzuführen. Dazu gehört, Entscheidungsprozesse zu überprüfen, im Team gemeinsam kritische Ereignisse zu bewerten oder aus verschiedenen Richtungen anzugehen, sich bewusst Sparringspartner zu suchen, die einem (unangenehme, aber hilfreiche) Wahrheiten sagen. Es geht darum, Vorgehensweisen zu etablieren, die erstens helfen, das Nashorn zu erkennen und zweitens dabei unterstützen, Maßnahmen zu ergreifen (anstatt weiter abzuwarten).

Gegen den Elefanten im Raum helfen offene Kommunikation und etablierte Konfliktlösungsprozesse. Teams sollten lernen und erfahren, wie Konflikte vermieden werden oder, falls sie bereits eingetreten sind, wie sie schnell zu lösen sind – damit wir den Tieren der Veränderung nicht im Büro, sondern allenfalls im Zoo begegnen.


Quellen:
https://de.wikipedia.org/wiki/Schwarzer_Schwan

Jaye, Nathaniel: Behavioral Finance, Leadership, Management & Communication Skills, Risk Management, https://blogs.cfainstitute.org/investor/2017/10/23/do-gray-rhinos-pose-a-greater-threat-than-black-swans/

Taleb, Nassim Nicholas: Der Schwarze Schwan – die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse

Wucker, Michele: „The Gray Rhino: How to Recognize and Act on the Obvious Dangers We Ignore.”